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Policy Brief: Südtirols Autonomie im Jahr 2023

Veröffentlicht am 13. Dezember 2023

Marc Röggla, Jakob Volgger

Der Policy Brief analysiert die jüngsten autonomiepolitischen Entwicklungen in Südtirol. Die behandelten Themenfelder umfassen die Landtagswahl, neue Durchführungsbestimmungen, Finanzen, die Sprachgruppenzählung sowie aktuelle schulpolitische Debatten.

Politische Entwicklungen

Die Politik in Südtirol war 2023 durch den Wahlkampf und die Landtagswahl geprägt. Die diesjährige Landtagswahl führte zu einem weiteren Rückgang der Wahlbeteiligung (2023: 71,5 %; 2018: 73,9 %) und zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft. Die Südtiroler Volkspartei (SVP) – seit 1948 die stimmenstärkste Partei in der Provinz – verlor zwei Sitze im Landtag und setzte damit den Negativtrend der letzten Jahrzehnte fort. Für die Bildung einer Regierungsmehrheit ist neben einem italienischen Partner erstmals auch eine weitere deutsche Partei notwendig. Die Zahl der Abgeordneten der italienischen Sprachgruppe sank im Landtag um drei Sitze.  Somit ist die italienische Sprachgruppe gemessen an den Zahlen der Sprachgruppenzählung von 2011 unterrepräsentiert (5 Sitze von 35). Die ladinische Sprachgruppe ist mit einem Vertreter weniger im Landtag vertreten (1 von 35 Sitzen).

Tabelle 1: Ergebnisse der Landtagswahlen 2018 und 2023 im Vergleich (Quelle: civis.bz.it)

  2018 2023
Parteien % Sitze % Sitze
Südtiroler Volkspartei 41,9 15 34,5 13
Team K 15,2 6 11,1 4
Süd-Tiroler Freiheit 6 2 10,9 4
Verdi Grüne Vërc 6,8 3 9 3
Fratelli d’Italia 1,7 1 6 2
JWA – Wirth Anderlan 5,9 2
Die Freiheitlichen 6,2 2 4,9 2
PD Partito Democratico – Demokratische Partei 3,8 1 3,5 1
Für Südtirol mit Widmann 3,4 1
Lega Salvini Alto Adige Südtirol – Uniti per l’Alto Adige 11,1 4 3 1
La Civica 2,6 1
Vita 2,6 1
Movimento 5 Stelle 2,4 1 0,7 0
Enzian 0,7 0
Forza Italia 1 0 0,6 0
Centro Destra 0,6 0

Die Landesregierung muss laut Autonomiestatut das Verhältnis der Sprachgruppen im Landtag widerspiegeln. Allerdings war kurz nach der Wahl strittig, wie viele Sitze der italienischen Sprachgruppe bei einer möglichen elfköpfigen Landesregierung zustehen würden. Das Gutachten des Landtags vom November sieht – bei der von der SVP beabsichtigten Einberufung eines ladinischen Landesrats – nur die Möglichkeit für eine*n italienische*n Landesrät*in vor. Im Widerspruch dazu steht das juristische Gutachten der Staatsadvokatur. Diese geht bei der genannten Konstellation von zwei italienischen Landesrät*innen aus. Die Entscheidung darüber, ob es überhaupt zu einer elfköpfigen Landesregierung kommt, ist Teil der Koalitionsgespräche.

Die SVP hat Anfang Dezember bekanntgegeben, Verhandlungen mit Fratelli d’Italia, der Lega, La Civica und den Freiheitlichen führen zu wollen. Das Kalkül der SVP scheint zu sein, durch die Regierungsbeteiligung der Fratelli d’Italia in Südtirol die Verhandlungen über die Autonomie mit der italienischen Regierung zu begünstigen. Im Raum stehen Verhandlungen, die in der Vergangenheit beschnittenen Gesetzgebungskompetenzen wiederherzustellen. Der Kompetenzverlust ist unter anderem auf die italienische Verfassungsreform von 2001 und die Judikatur des Verfassungsgerichts zurückzuführen.

Auch auf nationaler Ebene gibt es gemeinsame Bestrebungen aller autonomen Regionen und Provinzen, deren autonome Kompetenzen wiederherzustellen. Hierzu wurde der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gemeinsam ein Änderungsvorschlag für die Verfassung übergeben.

Rechtliche Entwicklungen

Mit den italienischen Parlamentswahlen 2022 wurde es nötig, die staatlichen Vertreter*innen der 6er- bzw. 12er-Kommission neu zu ernennen. Die italienische Regierung aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia ernannte im Februar Eleonora Maines, Alessandro Urzí und Anton von Walther als Mitglieder der 6er-Kommission. Das Land Südtirol wird dort zurzeit von Meinhard Durnwalder, Manfred Schullian und Carlo Vettori vertreten. Durch die Landtagswahl 2023 sind die Vertreter*innen Südtirols neu zu ernennen.

Die italienische Regierung hat 2023 – mit Mitwirkung der paritätischen Kommissionen – fünf Durchführungsbestimmungen erlassen. Aus der Sicht des Minderheitenschutzes ist vor allem das gesetzesvertretende Dekret vom 15. Mai 2023, Nr. 65 folgenreich. Demnach müssen Bewerber*innen um öffentliche Stellen künftig mindestens eine der schriftlichen Prüfungen, sofern solche vorgesehen sind, und in jedem Fall die mündlichen Prüfungen in der Sprache ablegen, deren Sprachgruppe sie angehören oder sich zugehörig erklärt haben. Vorher konnte die Prüfungssprache frei gewählt werden und musste nicht mit der eigenen Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung übereinstimmen. Für jene mit ladinischer Sprachgruppenzugehörigkeit gilt die neue Regelung nicht.

Mit Blick auf die Sportautonomie ist im September eine Durchführungsbestimmung verabschiedet worden. Die Durchführungsverordnung sieht zum einen vor, dass das Nationale Olympische Komitee (CONI) in den beiden autonomen Provinzen auf Landesebene und nicht mehr auf regionaler Ebene angesiedelt wird. Das CONI, die nationalen Sportverbände, die angegliederten Sportdisziplinen sowie die Organisationen zur Förderung des Sports müssen des Weiteren den sprachlichen Besonderheiten Südtirols Rechnung tragen. Darüber hinaus wurden durch die Durchführungsbestimmung der Verband der Sportvereine Südtirols und die Unione delle Società Sportive Altoatesine als Einrichtungen zur Förderung des Sports anerkannt. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmeregel: Als Einrichtung zur Förderung des Sports werden Verbände normalerweise nur dann anerkannt, wenn sie in mindestens fünf Regionen tätig sind.

Tabelle 2: Erlassene Durchführungsbestimmung im Jahr 2023 (Quelle: LexBrowser)

Durchführungsbestimmung Sachbereich
Gesetzesvertretendes Dekret vom 15. Mai 2023, Nr. 64 Rechtlicher Beistand durch die Staatsadvokatur
Gesetzesvertretendes Dekret vom 15. Mai 2023, Nr. 65 Proporz in den staatlichen Ämtern in der Provinz Bozen und der Kenntnis der beiden Sprachen im öffentlichen Dienst
Gesetzesvertretendes Dekret vom 31. Juli 2023, Nr. 113 Kontrollen durch den Rechnungshof
Gesetzesvertretendes Dekret vom 26. September 2023, Nr. 143 Raumordnung und Landschaftsschutz
Gesetzesvertretendes Dekret vom 26. September 2023, Nr. 1471 Sport und Freizeitgestaltung mit den entsprechenden Anlagen und Einrichtungen

Gesellschaftliche Entwicklungen

Am 04. Dezember hat offiziell die Sprachgruppenzählung begonnen. Damit wird die prozentuelle Zusammensetzung der deutschen, italienischen und ladinischen Sprachgruppe in Südtirol erhoben. Auf Basis der Sprachgruppengröße werden die Posten in der öffentlichen Verwaltung an die drei Sprachgruppen vergeben und in bestimmten Bereichen (etwa der Kultur) öffentliche Gelder aufgeteilt. An der Sprachgruppenzählung können alle jene teilnehmen, die am Stichtag 30. September 2023 im Besitz der italienischen Staatsbürgerschaft waren und ihren Wohnsitz in Südtirol hatten. Diese Kriterien treffen auf rund 484.000 Personen in Südtirol zu. Erstmals erfolgt die Sprachgruppenzählung auch online. Mit den Ergebnissen ist Ende nächsten Jahres zu rechnen. Die letzte Zählung fand 2011 statt.

Grafik 1: Ergebnisse der Sprachgruppenzählungen seit 1971 (Quelle: ASTAT)

Diskussionen gab es im Bildungsbereich. In Bozen sind laut Aussagen der Schulführungskräfte deutschsprachige Kinder und Jugendliche in deutschen Schulen bisweilen in der Unterzahl. Eignungstests oder ein mehrsprachiges Schulmodell wurden als Lösungen vorgeschlagen. Beide Vorschläge fanden aber vorläufig keinen parteiübergreifenden Konsens.

Dass es im Bereich Schule immer wieder zu Veränderungen kommt, zeigt die Tatsache, dass nächstes Jahr in Südtirol erstmals ein internationaler Klassenzug angeboten wird: Am Realgymnasium Bozen wird Englisch zur Unterrichtssprache für die Fachrichtung mit Schwerpunkt Angewandte Naturwissenschaften. Deutsch und Italienisch werden aber ebenfalls unterrichtet.  Die Einführung dieses internationalen Klassenzugs hat der Landtag 2022 genehmigt.

Finanzpolitische Entwicklungen

Im Hinblick auf die Finanzautonomie ist das am 25. September 2023 unterzeichnete Abkommen mit dem Staat zu erwähnen. Dadurch wurden Südtirol zwei Dinge zugesichert: zum einen, dass die Provinz die Zahlung für Einnahmeausfälle in den Jahren 2010 bis 2020 von rund 268 Millionen Euro erhält, zum anderen, dass der jährliche Beitrag zu den Staatsfinanzen ab dem laufenden Jahr 2023 von derzeit 713 Millionen Euro auf 688 Millionen Euro reduziert wird. Die Autonomen Provinzen Trient und Bozen verzichten durch das neue Abkommen auf den Steueranteil aus Heizöl. Diese Akzisen waren zuletzt auch rückläufig, da immer weniger mit Öl geheizt wird.

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